Herausforderungen der Selbsthilfe in Zeiten des demografischen Wandels
von Daniel Jux, BAG SELBSTHILFE
Vom demografischen Wandel in Deutschland hat jeder schon mal gehört. Es ist ein Begriff, der in den Medien von Zeit zu Zeit auftaucht und mit Schlagwörtern wie Fachkräftemangel, Geburtenrückgang und Überalterung einhergeht. Was aber bedeutet „demografischer Wandel“, wenn wir heute in Deutschland davon sprechen?
Betrachtet man zunächst nur den Begriff „Demografie“, so beschreibt dieser allgemein die Zusammensetzung einer Bevölkerung. Folglich bringt der „demografische Wandel“ die stattfindenden Veränderungen der Anteilsverhältnisse darin zum Ausdruck. Hierbei werden unter anderem Faktoren wie Alter, Geschlecht, Beschäftigungsentwicklung, Ein- und Auswanderung sowie Besiedelungsdichten betrachtet. Fakt ist, den demografischen Wandel hat es schon immer gegeben. Wie sich dieser allerdings ausprägt, hat sich in den vergangenen Epochen jeweils unterschieden und stellt uns heute vor neue Herausforderungen. Die prägnantesten Auswirkungen des demografischen Wandels lassen sich aktuell in Deutschland mit „älter“, „weniger“ und „vielfältiger“ betiteln.
Älter
Derzeit wird der demografische Wandel häufig in Verbindung mit dem Alter gebracht. Nicht zu unrecht, denn die Deutschen werden immer älter. Genauer gesagt steigt hierzulande die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen. So hat ein im Jahr 2017 geborener Junge eine prognostizierte durchschnittliche Lebenserwartung von 78 Jahren, ein Mädchen sogar von 83 Jahren (1). Aber auch wer heute bereits ein Alter von 65 Jahren erreicht hat, kann je nach Geschlecht noch auf durchschnittlich 18 bis 21 Lebensjahre blicken. Diese Zahlen übersteigen jegliche Lebenserwartungen vergangener Generationen. Mit verantwortlich dafür sind die medizinischen Fortschritte sowie die besseren Arbeits- und Lebensbedingungen.
Weniger
Auch der Geburtenrückgang wird häufig in der Diskussion zum demografischen Wandel herangezogen. Bereits seit den 1970er-Jahren werden in Deutschland zunehmend rückläufige Geburtenzahlen verzeichnet. Während 2015 rund 740.000 Neugeborene zur Welt kamen, waren es 1964 mit 1,35 Millionen noch fast doppelt so viele. Die Geburtenrate liegt mittlerweile bei 1,5 Kindern pro Frau; für einen zahlenmäßigen Erhalt der Bevölkerung müsste sie 2,08 betragen. Infolge dessen liegen die Sterbezahlen seit 1972 konstant über den Geburtenzahlen. Die derzeitigen Vorausberechnungen des statistischen Bundesamtes kommen zu dem Schluss, dass aufgrund der Datenlage von 2015 bis zum Jahr 2060 die deutsche Bevölkerung von derzeit 82,2 Millionen auf 76,5 Millionen Menschen sinken wird.
Diese beiden zeitgleich ablaufenden Entwicklungen, zum einen die Tatsache, dass die Menschen
immer älter werden, und zum anderen der Rückgang der Geburten, führen dazu, dass seit 2010 eine Situation vorherrscht, in der die Bevölkerungsgruppe der über 65-Jährigen größer ist als die der unter 21-Jährigen. Eine derartige Altersverteilung gab es bisher nicht und stellt damit eine vollkommen neue Herausforderung für die Gesellschaft dar.
Vielfältiger
Ein weiterer entscheidender Aspekt im demografischen Wandel, der häufig übersehen wird, ist die stärker werdende multikulturelle Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung. Der Anteil der Mitmenschen mit Migrationshintergrund hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Dies ist zurückzuführen auf die Zuwanderung aus dem Ausland. Angefangen von den Gastarbeitern in den 1950er-Jahren aus Ländern wie Italien, Spanien und der Türkei über die Spätaussiedler insbesondere in den 1990er-Jahren aus den ehemaligen Ostblockstaaten bis hin zu den heutigen Zuzügen von Menschen aus EU-Staaten oder auch der Zustrom an Flüchtlingen aus Krisengebieten wie Syrien oder Afghanistan. Mit rund 17,1 Millionen, das entspricht etwa 21 Prozent der Gesamtbevölkerung, erreicht die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland bereits 2015 ein neues Hoch. Migrationshintergrund bedeutet in dem Zusammenhang, dass entweder die Person selbst oder mindestens ein Elternteil ohne deutsche Staatsbürgerschaft geboren wurde. Dabei gilt zu beachten, dass mehr als die Hälfte davon selbst die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt und mittlerweile bereits jedes dritte Neugeborene hierzulande auf mindestens ein Elternteil mit Wurzeln im Ausland verweisen kann.
Ein drängendes Thema für die Selbsthilfe?
Wenn also vom demografischen Wandel in Deutschland gesprochen wird, dann lässt sich dieser auf die Entwicklung zu einer immer älter werdenden, weniger Kinder gebärenden und zugleich in größerem Maße multikulturell zusammengesetzten Bevölkerung zusammenfassen. Wichtig ist zu erkennen, dass der Wandel bereits stattgefunden hat und sich zukünftig noch verstärken wird. Mit diesen Entwicklungen gehen auch gesamtgesellschaftliche Probleme einher, auf die es Lösungen zu finden gilt. Aber ist der demografische Wandel auch ein Thema, mit dem sich die Akteure der Selbsthilfe auseinandersetzen sollten?
Diese Frage muss mit „Ja“ beantwortet werden, denn gerade in der Selbsthilfe wird es unweigerlich zu Veränderungsprozessen aufgrund der Auswirkungen des Wandels kommen. Wenn aus dem Selbsthilfesektor nicht entsprechende Maßnahmen mitentwickelt werden, um diesen Entwicklungen
zu begegnen, dann wird dies gravierende Auswirkungen auf die zukünftige Selbsthilfearbeit haben. Die Selbsthilfe in Deutschland, das sind rund 100.000 Gruppen, über 300 Selbsthilfekontaktstellen sowie über 300 bundesweit aktive Selbsthilfeorganisationen. Hinter dem Begriff „Selbsthilfe“ stehen
hierzulande Millionen von Menschen.2 Wie der demografische Wandel die Selbsthilfearbeit dieser beeinträchtigen kann und welche weiteren Problemstellungen sich daraus ergeben, soll exemplarisch anhand von drei Bereichen aufgezeigt werden.
1. Nachwuchs für das Engagement
Der erste Bereich ist der des ehrenamtlichen Engagements in der Selbsthilfe. Aus dem Freiwilligensurvey des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geht hervor, dass sich im Gesundheitssektor rund 2,5 Prozent der Bevölkerung ehrenamtlich engagieren. Dazu zählen auch diejenigen, die wertvolle Arbeit lokal, regional und bundesweit in der Selbsthilfe erbringen. In einer Gesellschaft mit geringeren Nachfolgegenerationen wird es aber zunehmend schwerer fallen, Freiwillige für die wichtigen Leitungs- und Gremienarbeit zu gewinnen. Bereits heute ist in vielen Verbänden die Nachwuchsgewinnung und Nachfolge für Ämter eines der drängendsten Problemfelder.
Möchte man insbesondere junge Menschen für das Ehrenamt gewinnen, so braucht es eine gezieltere Ansprache sowie Berücksichtigung der Bedürfnisse dieser Gruppe. Hierzu könnte eine unverbindlichere und flexible Form des Engagements zählen, die der jeweiligen Lebensphase, sei es Ausbildung, Berufseinstieg oder Familiengründung, entspricht. Da starre Verbandsstrukturen auf diese Gruppe eher abschreckend wirken, sollten kreative Lösungen entwickelt werden, um die Vorteile des Vereinswesens mit den Lebenswelten dieser zu vereinen.
Gleiches gilt aber auch für die wachsende Gruppe der über 65-Jährigen. Mit Eintritt ins Rentnerdasein besteht zu einem großen Teil der Wunsch, sich weiterhin gesellschaftlich zu beteiligen. Gerade hier können neue Karrieren im Ehrenamt beginnen. Auch diesen Menschen muss mit Hinblick auf deren Bedürfnisse für die zukünftige Selbsthilfearbeit begegnet werden.
In dem Kontext darf die Selbsthilfe es nicht verpassen, das Potenzial der Mitbürger mit Migrationshintergrund zu erkennen. Denn gerade diese Bevölkerungsgruppe ist derzeit noch immer in der Selbsthilfe und Selbsthilfearbeit deutlich unterrepräsentiert, obwohl sie bereits ein Fünftel unserer Mitmenschen ausmacht. Deswegen ist es von äußerster Dringlichkeit, Maßnahmen zu ergreifen, um das Selbsthilfeangebot auch für diese Menschen zugänglicher zu machen. Da Kommunikation für die Selbsthilfe eine ganz entscheidende Rolle spielt, braucht es unter anderem Angebote in anderen Sprachen, um den niedrigschwelligen Zugang weiterhin zu gewährleisten.
2. Selbsthilfe fernab der Großstadt
Der zweite Wirkungsbereich betrifft die Selbsthilfe im ländlichen Raum. In Deutschland geht die Urbanisierung weiter voran. Dieser Trend, vor allem junger Menschen, die ländlichen Regionen zu verlassen und in die Städte umzuziehen, ist zurückzuführen auf die besseren beruflichen Perspektiven, die bessere Infrastruktur und das vielfältigere Freizeitangebot. Für die ländlichen Kommunen und Gemeinden bedeutet dies, dass sie bereits schon heute in den Bevölkerungszahlen schrumpfen und das Durchschnittsalter stark ansteigt – eine Entwicklung, die sich zukünftig noch weiter verschärfen wird. Infolge des Wegzugs werden zudem Investitionen in die Infrastrukturen dieser Regionen gekürzt oder fallen ganz weg. Das stellt auch die lokale Selbsthilfe vor neue Probleme. Für die Selbsthilfestruktur gilt es daher in Zusammenarbeit mit der kommunalen Politik herauszuarbeiten, wie Selbsthilfegruppen in diesen Regionen weiterhin arbeiten können. Wie kann die Arbeit von Selbsthilfeorganisationen regional sichergestellt werden, wie die individuelle Mobilität bei den Einsparungen im öffentlichen Nahverkehr aufrechterhalten werden? Braucht es vielleicht gerade in diesen Gebieten neue Kommunikationswege mittels digitaler Technologien, und welche Rolle werden zukünftig soziale Medien dabei spielen?
3. Finanzielle Förderungen der Selbsthilfearbeit
Der dritte Bereich zielt auf die Auswirkungen des demografischen Wandels auf das Gesundheitssystem ab. Dieses basiert in Deutschland auf dem Solidaritätsprinzip. Für die Gesetzlichen Krankenkassen bedeutet dies, dass sich die Beitragshöhe aller Versicherten nach der individuellen finanziellen Leistungsfähigkeit bemisst, die Gesundheitsleistungen selbst aber unabhängig von der Beitragshöhe den Versicherten zustehen. Die Selbsthilfe ist mittlerweile ein wichtiger Bestandteil im deutschen Gesundheitssystem, was sich unter anderem daran zeigt, dass allein in 2017 von den Krankenkassen für die gesundheitsbezogene Selbsthilfe ein gesetzlich geregeltes Fördervolumen von rund 77 Millionen Euro bereitgestellt wurde (3).
Durch die Entwicklungen im demografischen Wandel werden die Belastungen auf das Gesundheitssystem weiter zunehmen. Die Gruppe der über 65-Jährigen liegt mit den Pro-KopfAusgaben der Krankenkassen für Gesundheitsleistungen über dem Gesamtdurchschnitt der Bevölkerung. Mit dem stetigen Anwachsen dieses Bevölkerungsteils erhöhen sich zugleich die finanziellen Ausgaben durch die Kassen. Damit das Solidaritätsprinzip im Gesundheitssystem weiter funktionieren kann, werden die Politik und die Gesetzlichen Krankenkassen reagieren müssen. Entweder werden die Beitragssätze erhöht und damit verstärkt die jüngeren Generationen im Arbeitsmarkt belastet oder es werden Leistungen für gesundheitsfördernde Maßnahmen reduziert. Letztere Reaktion könnte zu einem deutlich geringeren Fördervolumen und damit einer erheblichen Einsparung im Selbsthilfesektor führen.
Was kann getan werden?
Betrachtet man die Auswirkungen und Problemstellungen allein nur aus diesen drei aufgezeigten Bereichen auf die Selbsthilfelandschaft, dann wird klar, dass der demografische Wandel eine enorme Herausforderung darstellt. Diese kann nur in Zusammenarbeit, einerseits im Verbund der Selbsthilfeakteure, andererseits mit weiteren Partnern angegangen werden. Gerade dabei kommen der Selbsthilfe ihre bereits weitläufige Vernetzung via Kooperationen mit den Krankenkassen, die beratenden politischen Tätigkeiten wie im Gemeinsamen Bundesausschuss und der enge Kontakt zu den Medien zugute. Es gilt, sich aktiv mit den Problemstellungen der sich wandelnden Bevölkerung auseinanderzusetzen und das Thema in möglichst vielen Gremien immer wieder auf die Tagesordnung zu holen.
Ein Projekt, das sich dieser Aufgabe bereits widmet, trägt den Titel „Selbsthilfe unter den Rahmenbedingungen des demografischen Wandels“. Dieses vom BKK Dachverband geförderte und unter der Federführung der BAG SELBSTHILFE stehende Projekt hat die Zielsetzung, gemeinsam mit den Vertretern der Selbsthilfeorganisationen Strategien zur Bewältigung zu erarbeiten und erproben. Das hierbei zugrunde liegende Strategiepapier, das ebenfalls Grundlage dieses Artikels ist, steht kostenfrei auf der Internetseite der BAG SELBSTHILFE als Download zur Verfügung:
www.bag-selbsthilfe.de/selbsthilfe-unter-den-rahmenbedingungen-des-demografischenwandels.html
Kontakt zum Autor:
BAG SELBSTHILFE
Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e. V.
Daniel Jux
Projektmanagement
Kirchfeldstraße 149
40215 Düsseldorf
Telefon: 0211 31006-59
E-Mail: daniel.jux@bag-selbsthilfe.de
(1) Alle statistischen Daten stammen, sofern keine andere Quelle genannt wird, von statistischen Bundesamt www.destatis.de
(2) Quelle: www.nakos.de
(3) Quelle: Gemeinsames Rundschreiben 2017 der „Verbände der Krankenkassen auf Bundesebene“ zur Förderung der Selbsthilfebundesorganisationen gemäß § 20h SGB V
Text zum Download als PFD-Datei
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