Seit den so genannten “C-Leg-Urteilen” vor zehn Jahren1 hat sich die Versorgungslandschaft verändert. Computergestütze Passteile gehören nunmehr seit Jahren zum Stand der Technik2. Patienten haben Anspruch auf funktionelle Optimalversorgung3. Für den Techniker bedeutet dies, dass er sich gerade mit diesen Leistungsansprüchen seines Patienten auseinandersetzen muss, um nicht nur die bestmögliche Versorgung lediglich technisch umsetzen zu können, sondern seinen Versorgungsvorschlag auch im Dialog mit dem Kostenträger durchsetzen kann.
1. Der Versorgungsanspruch
Bei der Versorgung mit Prothesen gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Dabei kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollst_ndig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist4. Der gesunde Mensch und seine möglichkeiten sind also der Massstab, an dem die Versorgung zu messen ist. Ist ein neues Produkt auf dem Markt und wünscht der Versicherte trotz funktionierender Alltagsprothese eine Umversorgung, so müssen sich die Verbesserungen auf seinen gesamten Alltag auswirken und nicht nur in Lebensbereichen ganz am Rande des Alltags. Bei einer Neu- oder Anschlussversorgung ist diese Prüfung jedoch nicht notwendig, da der Patient ja noch über keine funktionsf_hige Prothese verfügt. Es ist bei der Prothesenversorgung auch nicht zu prüfen, ob die Funktionen des Hilfsmittels ein Grundbedürfnis des Anwenders betreffen. Das Laufen, Gehen und Stehen als solches im immer schon ein Grundbedürfnis5. Daher verfängt auch der von Krankenkassen vorgebrachte Einwand, sie schulden nur einen Basisausgleich nicht. Der Basisausgleich ist ein Begriff aus dem so genannten mittelbaren Behinderungsausgleich, also der Versorgung mit Rollstühlen und anderen Hilfsmitteln, die nicht die Behinderung selbst, sondern nur deren Auswirkungen auf den Alltag des behinderten Menschen betreffen.
2. Die Rolle des Arztes und des Sanitätshauses
Der Arzt spielt bei der Versorgung mit Mobilitätshilfsmitteln eine weniger grosse Rolle, als bei der Verordnung von Hilfsmitteln zur Krankenbehandlung. Mittlerweile geht das Bundessozialgericht sogar davon aus, dass für die Hilfsmittelversorgung nicht zwingend eine _rztliche Verordnung notwendig sei6 . Arzt und Sanitätshaus sind Leistungserbringer der gesetzlichen Krankenkasse mit eigenen Zust_ndigkeitsbereichen. Der Arzt ist der Behandler und geniesst die so genannte Therapiehoheit und das Recht notwendige Therapien oder Hilfsmittel zu verordnen7. Dem Sanitätshaus kommt als zust_ndiger nichtärztlicher Leistungserbringer und Fachbetrieb die Aufgabe zu, die _rztliche Verordnung zu konkretisieren oder selbst die technische Ausgestaltung einer Prothese zu bestimmen8. Sowohl Arzt, als auch das Sanitätshaus haben dabei die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit zu beachten9. Wirtschaftlichkeit bedeutet jedoch nicht, dass nur eine preisgünstige Versorgung erlaubt ist. Vielmehr versteht das Krankenversicherungsrecht unter diesem Begriff, dass zwischen funktionell gleichwertigen Hilfsmitteln nur das preisgünstigste geschuldet ist. “Die Wirtschaftlichkeit eines dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden Hilfsmittels ist grundsätzlich zu unterstellen und erst zu prüfen, wenn zwei tatsächlich gleichwertige, aber unterschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen.”10
3. Die Aufgabe des Medizinischen Dienstes
Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) kann vor Bewilligung eines Hilfsmittels die Versorgungsnotwendigkeit prüfen11. Da beim MDK vornehmlich órzte mit der Prüfung beauftragt sind sollen wegen des fehlenden Orthopädietechnischen Sachverstandes mit den Orthop_dischen Versorgungsstellen zusammenarbeiten12. Es besteht jedoch auch die möglichkeit, dass der MDK selbst Orthopädietechniker einstellt und hierdurch eigenen technischen Sachverstand einsetzen kann13. Der MDK ist jedoch nicht berechtigt, in die _rztliche Behandlung einzugreifen14. Ebensowenig ist die Krankenkasse berechtigt, andere Gutachterdienste einzuschalten. Andere Gutachterdienste dürfen von Krankenkassen zwar grundsätzlich beauftragt werden, nicht jedoch zur Beantwortung der Frage, ob die Versorgung eines Patienten mit einem bestimmten Hilfsmittel erforderlich ist15.
4. Der Rechtsweg
Patienten haben die möglichkeit gegen Ablehnungsbescheide Widerspruch einzulegen. Enth_lt der Ablehnungsbescheid keine Rechtsmittelbelehrung, so beträgt die Frist ein Jahr, mit Rechtsmittelbelehrung einen Monat. Wird die Frist vers_umt, so muss der Versicherte einen Neuantrag stellen. Hierdurch verliert er Zeit nicht aber seinen Anspruch auf nochmalige Prüfung. Wird der Widerspruch zurückgewiesen, ergeht Widerspruchsbescheid gegen den binnen eines Monats vor dem Sozialgericht geklagt werden kann. Das Klageverfahren ist kostenfrei. Das Gericht hat den Sachverhalt selbst zu ermitteln. Kosten für Sachverst_ndigengutachten trägt die Staatskasse. Erstinstanzliche Verfahren dauern zumeist eineinhalb Jahre oder l_nger. Wird gegen ein Urteil Berufung eingelegt, wird das Verfahren vor dem Landessozialgericht weitergeführt. Die zweite Instanz ist erfahrungsgemäss etwas kürzer, da bereits Gutachten und _rztliche Stellungnahmen erster Instanz vorliegen. Die dritte Instanz vor dem Bundessozialgericht ist eher selten und nur dann vorgesehen, wenn noch keine _hnliche Rechtsprechung vorliegt. Das ist nur sehr selten der Fall. Die Erfolgsaussichten eines Widerspruchs- und Klageverfahren h_ngen von der realistischen Einsch_tzung des Technikers oder einer gut dokumentierten Probeversorgung ab. Mittlerweile ist die Probeversorgung im Bereich der computergestützten Prothetik schon fast ein Muss. Durch die Probeversorgung kann nicht nur festgestellt, sondern auch gegenüber dem Kostenträger dokumentiert werden, dass der Anwender in der Lage ist, das Passteil zu nutzen und inwieweit er von den Gebrauchsvorteilen profitiert. Hierbei ist sowohl die fachliche Einsch_tzung des Technikers als auch die subjektive Empfindung des Anwenders von Bedeutung. Mittlerweile ist auch eine Videodokumentation fast schon unerl_sslich, da sich viele Unterschiede visuell deutlich besser erfassen und darstellen lassen, als durch schriftliche Erl_uterungen. Die Kosten für die Probeversorgung trägt die Krankenkasse16. In der Praxis ist es jedoch nicht ratsam zunächst nur eine Probeversorgung zu beantragen. Die Probeversorgung ist Teil des Kostenübernahmeprozesses und hat keine eigene Bedeutung. Es ist immer die vollst_ndige Versorgung zu beantragen. Soweit die Kasse aus Gründen der Wirtschaftlichkeit anordnet, ein funktionsgleiches und günstigeres Passteil auszuprobieren, so können auch diese Kosten in Rechnung gestellt werden.
Fazit
Die Versorgungsansprüche der Anwender sind derzeit hervorragend. Die Rechtsprechung trägt dem technischen Fortschritt Rechnung. Soweit im Vorfeld geKlärt ist, ob und wie der Anwender von einem Passteil profitiert, sind die Erfolgsaussichten einer Auseinandersetzung mit der Krankenkasse gut.
Autor:
Ralf Müller, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Sozialrecht
Strengerstrasse 2
33330 Gütersloh
Literatur:
1 BSG B 3 KR 68/01 R v. 06.06.2002; BSG B 3 KR 01/04 R, BSG B 3 KR 02/04 R, BSG B 3 KR 06/04 R, BSG B 3 KR 20/04 R jew. v. 16.09.2004
2 siehe hierzu _2 II 3 SGB V
3 st. Rspr. siehe hierzu u.a. auch BSG B 3 KR 19/08 R v. 25.06.2009, B 3 KR 12/10 R v. 18.05.2011
4 BSG B 3 KR 06/04 R
5 BSG B 3 KR 19/08 R
6 st. Rspr. Zuletzt wohl BSG B 3 KR 5/10 R v. 7.10.2010
7 siehe hierzu: Î_Î_73ff. SGB V
8 hierzu insgesamt BSG B 3 KR 14/10 R v. 21.07.2011
9 siehe hierzu: Î_12 SGB V
10 st. Rspr. siehe hierzu u.a.
11 Î_275 III SGB V
12 wie vor
13 Î_279 V SGB V
14 Î_275 V 2 SGB V
15 Î_275 IV SGB V
16 BSG B 3 KR 19/08 R
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