Landessozialgericht Saarland Az: L 2 KR 22/06
Entscheidungsdatum: 28.11.2007
Eine Krankenversicherung muss die Kosten für eine Unterarmprothese aus Silikon übernehmen, wenn der Versicherte damit zusätzlich folgende Tätigkeiten ausüben kann: Kochen mit heißen Töpfen, einen Aktenordner halten und Schnürsenkel binden. Diese Vorteile resultieren aus der Rutschfestigkeit und Hitzebeständigkeit einer Silikonprothese im Gegensatz zur Habitusprothese aus Gießharz mit PVC-handschuh und sind keineswegs unerheblich.
Zur Frage der Gebrauchsvorteile einer Unterarmsilikonprothese im Verhältnis zu einer Schmuckarmprothese aus Kunstharz.
Kurzbeschreibung:
Der 1974 geborenen Klägerin fehlt aufgrund einer Störung der Extremitätenentwicklung der linke Unterarm. Sie ist seit 2001 von der beklagten Krankenkasse mit einer Prothese in Silikontechnik versorgt. Im Jahre 2004 beantragte die Klägerin eine neue Prothese gleicher Art, da sie wegen ihrer publikumsträchtigen Arbeit häufig repräsentieren müsse und infolge der Verschmutzung der alten Prothese eine neue benötige.
Die Krankenkasse sagte (nur) eine Kostenübernahme für eine Prothese aus Kunstharz mit kosmetischem Überzug (sog. Standardprothese) zu. Eine erhöhte ästhetische Präsentation begründe keine Notwendigkeit der Hilfsmittelversorgung mit einer Silikonprothese.
Im Verfahren hat die Klägerin auf die erheblichen Gebrauchsvorteile im Alltagsleben hingewiesen. Anders als eine Prothese aus Gießharz lasse sich eine in Silikontechnik biegen, was z.B. im Haushalt das Grundbedürfnis ‘Greifen’ besser zufriedenstelle. Für ihre beruflich-repräsentativen Pflichten sei eine solche Versorgung im Einzelfall erforderlich. Aufgrund der vielen Außenkontakte benötige sie eine Prothese, die nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen sei.
Das SG hat die Krankenkasse verurteilt, die Klägerin mit einer Unterarmprothese mit Silikonhandschuh zu versorgen (Urteil des SG Saarland vom 19.05.2006 – Az.: S 1 KR 943/04). Das LSG hat die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt und ebenfalls den Versorgungsanspruch bejaht. Die Silikonprothese gleiche in einem solchen Umfang die Greif- und Haltefunktion der linken Hand und damit Grundbedürfnisse des täglichen Lebens teilweise aus oder erleichtere diese zumindest, dass die ausgefallene bzw. gestörte Funktion weitgehend kompensiert und der umfassende Gebrauchsvorteil erzielt werde. Dies gelte unabhängig von eventuellen Einzelvorteilen in den Bereichen Beruf, Sport und Ästhetik. Es komme insoweit alleine auf die Gebrauchsvorteile an.
Die Versorgung der Klägerin mit dem Hilfsmittel stehe auch nicht das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V entgegen, da der erforderliche Behinderungsausgleich nicht in gleichem Umfang mit einem kostengünstigeren oder zumindest gleich geeigneten Hilfsmittel erreicht werden könne.
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 19.05.2006 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Urteilstenor zu Ziffer 1) wie folgt berichtigt wird:
Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 11.05.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2004 verurteilt, der Klägerin eine Unterarmprothese mit Silikonhandschuh zu gewähren.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch für die Berufungsinstanz.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin mit einer Unterarmprothese nach Maß in Silikontechnik.
Die 1974 geborene Klägerin, die bei der Beklagten krankenversichert ist und der aufgrund einer Störung der Extremitätenentwicklung der linke Unterarm fehlt, beantragte bei der Beklagten zu Beginn des Jahres 2004 eine Prothese in Silikontechnik unter Vorlage einer Verordnung der Dres. S./W. aus I. und eines Kostenvoranschlages der Firma D., Du., der auf eine Endsumme von 11.149,51 EUR lautete. Die Klägerin war bereits im Jahre 2001 von der Beklagten mit einer gleichartigen Unterarmprothese versorgt worden. Sie begründete den Antrag damit, dass sie wegen ihrer publikumsträchtigen Arbeit häufig repräsentieren müsse und in Folge der Verschmutzung der alten Prothese eine neue benötige.
Nach einer Kurzstellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) und der Einholung eines Kostenvoranschlages für einen Schmuckarm aus Kunstharz, welcher auf eine Summe von 2.338,65 EUR lautete, sagte die Beklagte mit Schreiben vom 11.5.2004 eine Kostenübernahme für eine Prothese mit kosmetischem Überzug zu, lehnte aber den Antrag der Klägerin bzgl. Überzugs mit Silikontechnik mit der Begründung ab, eine erhöhte ästhetische Präsentation begründe keine Notwendigkeit dieser Hilfsmittelversorgung.
Hiergegen legte die Klägerin am 28.05.2004 Widerspruch ein. Diesen begründete sie damit, die Beklagte habe ihr bereits im Jahre 2001 eine Unterarmprothese mit Silikonhandschuh gewährt, die nunmehr verschlissen sei.
Nach erneuter Anhörung des MDK wies die Beklagte den Widerspruch mit Bescheid vom 18.10.2004 zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, das Grundbedürfnis ‘Greifen’, welches die Versorgung mit einem Hilfsmittel begründe, werde im vorliegenden Fall mit einer so genannten Standardprothese befriedigt, weshalb eine solche genehmigt worden sei.
Hiergegen richtete sich die am 12.11.2004 erhobene Klage, mit der die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt hat. Sie hat insbesondere darauf hingewiesen, die beantragte Versorgung bringe ihr erhebliche Gebrauchsvorteile im Alltagsleben. Anders als ein Schmuckarm aus Gießharz lasse sich eine Prothese in Silikontechnik nämlich biegen, was zum Beispiel im Haushalt das Grundbedürfnis ‘Greifen’ besser zufrieden stelle. Mit einer solchen Prothese könne sie auch Rad fahren und Schwimmen. Sie hat darüber hinaus geltend gemacht, unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse im Einzelfall sei eine solche Versorgung insbesondere aufgrund ihrer beruflich-repräsentativen Pflichten erforderlich. Als erste Ansprechpartnerin der Firma V. & B. für die Kontakte in die USA und Kanada benötige sie aufgrund der vielen Außenkontakte eine Prothese, die nicht auf den ersten Blick als eine solche zu erkennen sei. Dem genüge die sehr schmutzanfällige Standardprothese nicht. Bei dieser müsse alle Vierteljahre eine Auswechslung des Überzugs vorgenommen werden.
Das Sozialgericht für das Saarland (SG) hat im Klageverfahren zu eventuellen Gebrauchsvorteilen der beantragten Versorgung und zu deren medizinischer Notwendigkeit Beweis durch Sachverständigengutachten des Orthopäden Ip. erhoben (Gutachten vom 22.8.2005 und Ergänzung vom 23.11.2005). Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 31.3.2006 hat die Klägerin die Funktion von Silikon- und PVC-Handschuh demonstriert.
Das Sozialgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 19. Mai 2006 verurteilt, der Klägerin eine Unterarmprothese mit Silikonhandschuh zu gewähren. Der Anspruch ergebe sich aus § 27 Absatz 1 Satz 2 Ziffer 3 des Fünften Sozialgesetzbuch – SGB V, § 33 SGB V, da sich die Versorgung der Klägerin mit dem begehrten Hilfsmittel in ihrem Einzelfall als Erfüllung von Grundbedürfnissen darstelle. Werde ein gegenüber der Standardausstattung verbessertes Hilfsmittel begehrt, sei erforderlich, dass der Einsatz des Hilfsmittels zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt werde. Das SG hat Bezug genommen auf ein Urteil des Bundessozialgerichtes vom 16.09. 1999, Az.: B 3 KR 8/98 R, und ausgeführt, dazu gehörten zum einen die körperlichen Grundfunktionen wie Gehen, Stehen, Treppen steigen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, und zum anderen die elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die dazu erforderliche Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums. Auch die Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme zähle nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu diesen Bedürfnissen. Dabei sei auf den so genannten Basisausgleich abzustellen, der bei der Klägerin aber nach den Gesamtumständen des Einzelfalls erst durch die begehrte Versorgung gewährleistet sei. Zwar könne die Klägerin ihren Beruf auch mit der Standardprothese mit PVC- Handschuh ausüben.
Im Hinblick auf die Umstände in ihrem Metier sei ein gepflegtes Aussehen jedoch nicht nur eine kosmetische Frage der Klägerin, sondern als Standard erwünscht und gefordert. Hinzu komme, dass die Bewältigung von Aktenarbeit ihr mit einem herkömmlichen PVC-Handschuh fast unmöglich sei. Auch im Privatleben bei der Versorgung des Haushalts für sich und ihren Lebensgefährten bringe die Versorgung mit Silikonhandschuh betreffend Rutschfestigkeit und Hitzebeständigkeit Gebrauchsvorteile. Eine sportliche Betätigung, hier Rad fahren und Schwimmen, werde durch die begehrte Versorgung erleichtert bzw. erst ermöglicht. Bei Betrachtung all dieser Umstände bringe die Versorgung mit Silikonhandschuh entgegen den Ausführungen des Sachverständigen Ip. nicht nur geringe Vorteile. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG hat das SG ausgeführt, falls ei n Hilfsmittel die Ausübung einer beeinträchtigten Körperfunktion unmittelbar ermöglichen bzw. ersetzen solle, sei grundsätzlich das Hilfsmittel zu gewähren, das die ausgefallene Funktion möglichst weitgehend kompensiere, also den umfassendsten Gebrauchsvorteil biete. Vorliegend sei somit aufgrund der zuvor geschilderten beruflichen Stellung der Klägerin eine Versorgung notwendig, die u. a. das Fehlen ihres Unterarmes nicht sogleich erkennen lasse. Damit sei im Einzelfall die Versorgung durch eine Unterarmprothese mit Silikonhandschuh notwendiges Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung. Die streitgegenständlichen Bescheide seien teilweise aufzuheben gewesen, da eine Unterarmprothese hierin bereits gewährt geworden sei.
Gegen das der Beklagten am 26.6.2007 zugestellte Urteil hat diese am 19.07.2006 Berufung eingelegt.
Sie ist der Ansicht, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Versorgung mit dem beantragten Schmuckarm, vielmehr sei sie durch die angebotene Unterarmprothese ausreichend versorgt. Zu Recht stelle das SG klar, dass betreffend der körperlichen Grundfunktionen (Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören usw.) auf den so genannten Basisausgleich abzustellen sei. Dieser sei jedoch entgegen den Ausführungen des SG nicht erst durch die begehrte Versorgung gewährleistet. Mittel, die nicht unmittelbar an der Behinderung ansetzten, sondern in erster Linie bei deren Folgen auf beruflichem oder gesellschaftlichem Gebiet sowie bei Freizeitbetätigungen, seien nicht als Hilfsmittel der Krankenversicherung anzuerkennen. Das Ziel einer Hilfsmittelversorgung könne nicht die vollständige Rekonstruktion des verloren gegangenen früheren Zustandes sein, sondern der Behinderungsausgleich könne nur die Versorgung umfassen, die notwendig sei, um den Verlust – im vorliegenden Fall des Unterarmes – für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennbar werden zu lassen. Daraus folge, dass der Wunsch nach einer aufwändigeren Unterarmversorgung nicht maßgebend sei, wenn hierdurch der Beklagten als Kasse Mehrkosten entstünden.
Das medizinische Gutachten des Sachverständigen Ip. bestätige ihre Ansicht. Danach biete die begehrte Unterarmprothese gegenüber der bewilligten Versorgung lediglich Gebrauchsvorteile, die nicht erheblich ins Gewicht fielen. Die berufliche Tätigkeit erfordere nach den Sachverständigenangaben medizinischerseits keine Unterarmprothese mit Silikonhandschuh. Hier stehe der kosmetische Aspekt eindeutig im Vordergrund. Da die beantragte Versorgung mit erheblichen Mehrkosten einhergehe, könne diese unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes des § 12 SGB V nicht bewilligt werden. Originäre Aufgabe der gesetzlichen Krankenkasse sei die medizinische Rehabilitation. Ein kosmetischer Ausgleich unter subjektiven, modischen Aspekten falle nicht in die Zuständigkeit der Beklagten als Krankenkasse. Dies gebiete auch der Gleichbehandlungsgrundsatz. Sofern das SG in seinem Urteil insbesondere auf die berufliche Tätigkeit bzw. den persönlichen Anspruch der Klägerin nach einer modischen und gepflegten Erscheinung abstelle, hätte dies zur Bedeutung, dass beispielsweise eine Hausfrau ohne exponierte Tätigkeiten bei gleicher Behinderung diese kosmetisch aufwändigere Prothese nicht beanspruchen könne. Dies könne mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht vereinbar sein.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 19.05.2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil und fügt zur Begründung hinzu, das Urteil des SG konkretisiere in richtiger Weise die Maßstäbe der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts betreffend die Hilfsmittelversorgung. Allein die Gewährung einer Unterarmprothese mit Silikonhandschuh könne dem vom BSG formulierten Gebot des vollständigen Ausgleichs einer Behinderung im Sinne eines Gleichziehens mit einem gesunden Menschen Rechnung tragen. Vor dem Hintergrund der BSG- Rechtsprechung sei weiterhin festzuhalten, dass solche Hilfsmittel zu gewähren seien, die die ausgefallene bzw. gestörte Funktion möglichst weitgehend kompensierten, also den umfassendsten Gebrauchsvorteil böten. Diesen Maßstäben könne man nur bei Gewährung einer Unterarmprothese mit Silikonhandschuh gerecht werden, die bewilligte Versorgung reiche hierzu nicht aus. Im Übrigen seien die Gebrauchsvorteile einer Unterarmprothese mit Silikonhandschuh als wesentlich anzusehen.
Betroffen seien sowohl Verrichtungen in der Freizeit, im Haushalt, aber auch im Beruf. Gerade dort biete die Silikonprothese erhebliche Vorteile. Es sei im Übrigen zu berücksichtigen, dass Silikon ein wesentlich haltbareres Material sei als PVC. Die Silikonprothese biete zudem erhebliche Sicherheit beim Steuern eines Kraftfahrzeuges. Überdies werde das Fahrradfahren erst durch eine solche Prothese ermöglicht. Beim Kochen vermöge sie nur mit der hitzeresistenten Silikonprothese Töpfe zu halten. Schließlich macht sie geltend, dass durch die Versorgung mit einem Silikonhandschuh keine Mehrkosten entstünden, sondern im Vergleich zur Standardversorgung allenfalls gleich hohe Kosten anfielen. Zur Begründung führt sie aus, die Versorgung mit einer Standardprothese bedinge aufgrund des hohen Verschleißes jährlich mindestens 9 bis 10 neue PVC-Handschuhe, woraus ausweislich des von der Klägerin vorgelegten Kostenvoranschlages der Fa. D. jährlich Kosten in Höhe von 2.662,47 EUR entstünden. Ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz liege nicht vor, da diesem dadurch Rechnung getragen werde, dass in jedem Einzelfall eine Differenzierung erfolge.
In einem Erörterungstermin vom 24.9.2007 hat der Berichterstatter des Senats die Klägerin informatorisch befragt; die Klägerin hat Bewegungsabläufe der Silikon- und PVC-Prothese demonstriert. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf das Protokoll vom 24.9.2007 verwiesen. Ferner hat der Senat in der mündlichen Verhandlung vom 28.11.2007 die Klägerin befragt, die auch dem Senat gegenüber die Funktionsweise der Prothese sowie des PVC- und Silikonhandschuhs erläutert und demonstriert hat.
Wegen der weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.
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