Weder Unterarmgehstützen, noch Duschhocker oder rutschfeste Duschmatten sind geeignet, die Behinderung im Nassbereich auszugleichen. Daher ist von der gesetzlichen Krankenkasse ein Badebein zur Verfügung zu stellen.
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 13. Dezember 2005
Az.: L 9 KR 128/03
Az.: S 81 KR 1793/02
Berlin
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger mit einem Badebein entsprechend der ärztlichen Verordnung vom 6. Mai 2002 zu versorgen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das gesamte Verfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Kläger begehrt die Versorgung mit einem Badebein.
Der im Jahre 1948 geborene, bei der Beklagten krankenversicherte Kläger wurde von der Beklagten in der Vergangenheit mit einer Unterschenkelprothese versorgt, die er infolge Zustands nach Unterschenkelamputation benötigt. Am 6. Mai 2002 verordnete die den Kläger behandelnde Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. H ein sogenanntes Badebein, d. h. eine rutschsichere und wasserfeste Unterschenkelprothese, die etwa bei Besuchen des Schwimmbades, aber auch sonst etwa in Baderäumen getragen werden kann.
Mit Bescheid vom 15. Mai 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2003 lehnte die Beklagte den der Verordnung entsprechenden Leistungsantrag des Klägers mit der Begründung ab, es bestehe keine medizinische Notwendigkeit für die Versorgung mit dem Badebein. Dieses sei nicht für die elementare Lebensbetätigung des Klägers erforderlich. Es sei nicht Aufgabe der Krankenkassen, eine wasserfeste Unterschenkelprothese für Freizeitbeschäftigungen zur Verfügung zu stellen.
Die hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht Berlin nach Einholung ärztlicher Stellungnahmen Dr. H vom 27. Mai und 25. Juni 2003 abgewiesen: Das Badebein diene nicht der Sicherung der Krankenbehandlung, der Vorbeugung einer Behinderung oder dem Ausgleich einer Behinderung. Für Zwecke der Krankenbehandlung werde es nicht eingesetzt. Eine Behinderung gleiche es nur zum Zwecke der Freizeitbetätigung aus, und hierfür bestehe keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen.
Gegen dieses ihm am 11. September 2003 zugestellte Urteil hat der Kläger am Montag, dem 13. Oktober 2003 Berufung zum Landessozialgericht eingelegt, das Badebein diene sehr wohl dem Ausgleich einer Behinderung, weil der Kläger insbesondere in einem Schwimmbad keine Gehstützen benutzen könne, denn diese seien zu unfallträchtig.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. August 2003 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15. Mai 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Kläger mit einem Badebein entsprechend der ärztlichen Verordnung vom 6. Mai 2002 zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend und bezieht sich ergänzend auf das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. September 2003, L 4 KR 112/03.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsakten der Beklagten, welche Gegenstand der Entscheidung des Senats gewesen sind.
Die Entscheidung konnte im schriftlichen Verfahren durch den Berichterstatter ergehen, weil die Voraussetzungen der §§ 124 Absatz 2, 155 Absätze 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erfüllt sind.
Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid vom 15. Mai 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2003 beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, denn er hat Anspruch auf Versorgung mit einer wasserfesten Prothese.
Versicherte haben im Rahmen der Krankenbehandlung (vgl. § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch – SGB V – ) u.a. Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit es sich nicht um allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens handelt oder ein Leistungsausschluss nach § 34 SGB V vorliegt (§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V).
Eine Beinprothese ist kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, weil sie für die speziellen Bedürfnisse behinderter Menschen hergestellt und ausschließlich von diesem Personenkreis benutzt wird (vgl. Bundessozialgericht – BSG – SozR 3-2500 § 33 Nr. 33 und zuletzt BSG, Urteil vom 06.06.2002 (C-Leg) – B 3 KR 68/01 R = SozR 3-2500 § 33 Nr. 44). Ein Anspruchsausschluss nach § 34 SGB V besteht nicht; denn in der aufgrund dieser Ermächtigung erlassenen Rechtsverordnung vom 13.12.1989 (BGBl. I S. 2237) in der Fassung der Verordnung vom 17.01.1995 (BGBl. I S. 44) sind wasserfeste Gehhilfen nicht genannt.
Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG allein die medizinische Rehabilitation, also die Wiederherstellung der Gesundheit einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolgs und des Behinderungsausgleichs. Dies bedeutet, dass die Körperfunktionen soweit wie möglich wiederhergestellt werden, um ein selbständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Die Rechtsprechung zu § 182b RVO und § 33 SGB V hat dies so konkretisiert, dass bei einem unmittelbar auf den Ausgleich der beeinträchtigten Organfunktion selbst gerichteten Hilfsmittel, insbesondere einem künstlichen Körperglied, ohne Weiteres anzunehmen ist, dass eine medizinische Rehabilitation vorliegt (so ausdrücklich für eine Badeprothese: BSG SozR 2200 § 182 Nr. 55; vgl. auch BSG, Urteil vom 03.11.1999 – B 3 KR 16/99 R, SozR 3-1200 § 33 Nr. 1 und BSG, Urteil vom 16.09.1999 – B 3 KR 9/98 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 32, letztgenanntes Urteil aber im Zusammenhang mit nicht unmittelbar auf den Ausgleich der beeinträchtigten Organfunktion selbst gerichteten Hilfsmitteln (Therapie-Tandem)).
Bei nur mittelbar oder nur teilweise die Organfunktionen ersetzenden Mitteln wird in ständiger Rechtsprechung darüber hinaus gefordert, dass sie die Auswirkungen der Behinderung nicht nur in einem bestimmten Lebensbereich (Beruf/Gesellschaft/Freizeit), sondern im gesamten täglichen Leben („allgemein“) beseitigen oder mildern und damit ein „Grundbedürfnis des täglichen Lebens“ betreffen (vgl. BSG, Urteil vom 16.09.1999 – B 3 KR 8/98 R – (Rollstuhl-Bike); BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 5 und Nr. 27; SozR 2200 § 182b Nrn. 12, 30, 34, 37 jeweils m.w.N.).
An diesen Kriterien gemessen handelt es sich bei dem hier streitbefangenen Badebein um ein unmittelbar und vollständig die Organfunktion ersetzendes Hilfsmittel, das von der Beklagten dem Kläger zu gewähren ist. Der Senat sieht sich mit dieser Entscheidung nicht in Widerspruch zur neueren Rechtsprechung des BSG. Zwar hat das BSG in einem Rechtsstreit, in dem es um Versorgung mit einem Therapie-Tandem ging (Urteil vom 21.11.2002 – B 3 KR 82/02 – = Sozialgerichtsbarkeit 2003, 93f.) ohne Differenzierung ausgeführt, ein Hilfsmittel sei von der gesetzlichen Krankenversicherung nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Die betraf aber einen Fall des nur mittelbaren Behinderungsausgleichs, denn ein Therapie-Tandem ist ersichtlich nicht unmittelbar auf den Ausgleich der beeinträchtigten Körperfunktion gerichtet.
Ebensowenig sieht sich der Senat durch die Entscheidung des BSG zum Kniegelenksystem C-Leg (Urteil vom 06.06.2002 – B 3 KR 68/01 R – SozR 3-2500 § 33 Nr. 44) gehindert. Das BSG führt insoweit aus:
„Die frühere Rechtsprechung ging davon aus, dass die Krankenversicherung vordringlich bei solchen Hilfsmitteln leistungspflichtig sei, die einen Ausgleich der körperlichen Behinderung selbst bezweckten (BSG SozR 2200 § 182b Nr. 12; SozR 3-2500 § 33 Nr. 29). Ein derart unmittelbarer Ausgleich wurde angenommen, wenn das Hilfsmittel die Ausübung der beeinträchtigten Körperfunktion ermöglichte, ersetzte oder erleichterte. Hilfsmittel, die nicht unmittelbar an der Behinderung ansetzten, sondern den Funktionsausfall anderweitig ausglichen oder milderten, sollten nur dann in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung fallen, wenn Grundbedürfnisse betroffen waren (BSG SozR 2200 § 182b Nr. 10; SozR 3-2500 § 33 Nr. 16, S 73; Nr. 31, S 184 f). Dem lag die Erwägung zu Grunde, dass sich der direkte Funktionsausgleich in allen Lebensbereichen auswirkt und damit ohne Weiteres auch Grundbedürfnisse betroffen sind, während bei einem mittelbaren Ausgleich besonders geprüft werden muss, in welchem Lebensbereich er sich auswirkt. Eine solche Differenzierung erleichtert damit die rechtliche Einordnung und den Begründungsaufwand, ändert aber nichts daran, dass auch nach neuem Recht des SGB IX die Förderung der Selbstbestimmung des behinderten Menschen und seiner gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft durch Versorgung mit Hilfsmitteln nur dann Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist, wenn sie der Sicherstellung eines allgemeinen Grundbedürfnisses dient. Geht es – wie hier – um den Ersatz eines noch voll funktionstüchtigen Hilfsmittels durch ein technisch verbessertes Gerät mit Gebrauchsvorteilen gegenüber dem bisherigen Hilfsmittel, so reicht es nicht aus, wenn die Verbesserung sich nur in einzelnen Lebensbereichen auswirkt, die nicht zu den menschlichen Grundbedürfnissen zählen.“
Im vorliegenden Fall handelt es sich aber gerade nicht um den Ersatz eines noch voll funktionstüchtigen Hilfsmittels durch ein technisch verbessertes Gerät mit Gebrauchsvorteilen gegenüber dem bisherigen Hilfsmittel. Auch geht es nicht um den Ersatz eines besonders teuren, dem letzten Stand der wissenschaftlichen Machbarkeit entsprechenden Hilfsmittel. Im Übrigen vermag der Senat eine grundsätzliche Aufgabe der bisherigen ständigen Rechtsprechung durch diese offenbar auf den Einzelfall abstellende Entscheidung („Geht es – wie hier – …“) nicht zu erkennen (wie hier LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 5. Februar 2004, L 16 KR 102/03, dokumentiert in juris; a.A. offenbar ohne Bezugnahme auf die C-Leg-Entscheidung: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2003 – L 4 KR 112/03).
Die wasserfeste Prothese ist auch erforderlich, die Behinderung des Klägers auszugleichen. Annähernd gleich geeignete Hilfsmittel stehen weder mit Unterarmgehstützen noch mit Duschhocker und rutschfester Duschmatte zur Verfügung. Schon in Urlaub, Beruf und Freizeit können bei lebensnaher Betrachtung Unterarmgehstützen und ein Duschhocker nicht als zumutbare Alternativen in Frage kommen, weil die sanitären Anlagen (etwa bei Duschkabinen mit hohem Einstieg) entweder den Einsatz nicht zulassen oder die Mitnahme von Unterarmgehstützen, Hocker und rutschfester Matte nicht möglich oder zumutbar ist (Urlaub, Verwandtenbesuche etc.). Die weiteren Vorteile sind durch diese Hilfsmittel erst recht nicht zu erzielen. Besonders beim Besuch von öffentlichen Schwimmbädern ist zudem wegen der dortigen besonderen Verhältnisse (Nässe, Rutschgefahr) ein Verweis auf Unterarmgehstützen nicht möglich (LSG Nordrhein-Westfalen a. a. O.)
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Absatz 2 SGG nicht ersichtlich sind.
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